Wenn das Lehrbuch nicht mehr weiterhilft

Liebe Leserin, lieber Leser,

in den letzten Jahren beobachten wir mit Erstaunen, dass viele Krankheitsbilder nur noch zum Teil mit der im Lehrbuch beschriebenen typischen Symptomatik einhergehen. So können Schilddrüsenerkrankungen sowohl bei Über-, als auch Unterfunktion Ursache für Depressionen sein. Manche Menschen sind innerlich unruhig und eher schlank – trotz Neigung zur Unterfunktion. Andere wiederum wirken abgekämpft, müde und antriebsschwach – bei Überfunktion. Im Lehrbuch steht es genau umgekehrt!

Erkältungskrankheiten äußern sich immer weniger als „Allgemeininfekte“ mit tageweise hohem Fieber, starkem Schwitzen, das nach wenigen Tagen der Bettruhe von selbst vergeht. Immer mehr dominieren hartnäckige Bronchitiden mit wochenlangem trockenen Reizhusten. Antibiotika helfen nicht. Röntgenbilder bringen keine besondere Erkenntnis, auch Blutbilder fallen häufig „o. B.“ (ohne Befund) aus. Wo die vielen echten Grippefälle sein sollen, von denen die Impfbefürworter immer reden, ist mir ein Rätsel.

Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre scheinen fast ausgestorben zu sein – Krankheitsbilder, die vor 30 Jahren noch das Lehrbuch beherrschten. Statt dessen dominiert heute die Refluxkrankheit, bei der Magensaft in die untere Speiseröhre zurückfließt. Hieraus wiederum resultiert die exorbitante Verordnungshäufigkeit sogenannter Säureblocker.
 
Die Zöliakie, eine vollständige Un­verträglichkeit auf das Getreideeiweiß ­Gluten, zeigt als typische Symptomatik „Hydrantendurchfälle“. Die Patienten müssen 15–30 mal pro Tag die Toilette aufsuchen. Erst eine strikt glutenfreie Ernährung bessert schlagartig die Symptomatik. Heute weiß man, nicht wenige Menschen leiden an einer versteckten Gluten-Intoleranz und können sogar gegenteilige Symptome aufweisen, wie z. B. Verstopfung (!), zusätzlich aber auch Bluthochdruck, Kopfschmerzen, letztendlich eine breite Palette rheumatoider Erkrankungsbilder, die man zunächst nicht in Verbindung mit einer Nahrungsmittel-Unverträglichkeit bringen würde.

Neben Gluten, scheinen sich Intoleranzen auf Milch- und Fruchtzucker immer mehr zu verbreiten. Der labortechnische Nachweis klärt allerdings noch nicht die tieferliegende Ursache und beweist nicht, dass der Befund klinisch bedeutsam ist. Erst wenn ein Auslassen entsprechender Nahrungsmittel die Symptomatik bessert, hat der ­Befund wirkliche Relevanz.  Beachten Sie dazu unseren Themenschwerpunkt „Intoleranzen“ in dieser Ausgabe.

Die moderne Medizin wird immer mehr von technischen Spezialberufen dominiert: Augenlinsenauswechsler, Bandscheibenabsauger, Venenstripper und Kniegelenksaustauscher erscheinen als die wahren Heroen. Allein damit geht es aber auch nicht. Gerade bei den immer zahlreicher werdenden kom­plexen Befindlichkeitsstörungen sind Wachsamkeit und Fingerspitzengefühl angesagt, um auf die individuellen Besonderheiten des Patienten eingehen zu können. Ein ganzheitlicher Denkansatz ist somit nicht nur etwas für Sonntagsreden, sondern mehr denn je Notwendigkeit im Praxisalltag.

Mit den besten Grüßen