Wesen des Sinns
Foto: Vadimsadovski / Adobe Stock
Bewusstsein

Wesen des Sinns

Dr. phil. Christoph Quarch

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es. Doch was meint der Begriff überhaupt? Jede Zeit kennt ihre eigenen Angriffe auf die Menschenwürde. Jede Zeit braucht deshalb eigene Antworten darauf, wie sie zu bestimmen ist – und wie ihre Unantastbarkeit gewährleistet werden kann. Für die Gegenwart gilt dies in besonderem Maße.

Wir stehen an der Schwelle vom analogen zum digitalen Weltzeitalter. Eine Welle technischer Innovationen hat in den letzten 25 Jahren dazu geführt, dass sich das Antlitz des Planeten grundlegend verändert hat. Informationstechnologie, Bio- und Gentechnologie, Robotik, Medizintechnik und andere avancierte Wissenschaftszweige stellen Entwicklungen in Aussicht, die fragen lassen, was dabei aus der Menschenwürde wird.

Seit dem 18. Jahrhundert ist die menschliche Würde an das Konzept der Autonomie geknüpft. Würdig ist das Leben eines Menschen demnach nur dann, wenn er selbstständig entscheiden kann, wie er es gestalten möchte. Dieses Verständnis von Würde hat sich seither durchgesetzt. Und so ist nur logisch, dass die Anbieter neuer Technologien ihre Produkte damit bewerben, dass sie der Autonomie des Menschen dienlich sind; vor allem, wenn sie an alte Menschen adressiert sind. Egal ob es sich um einen Assistenzroboter handelt, ein über Gen- oder Biotechnologie entwickeltes Ersatzorgan oder ‑gelenk, eine Alexa oder ein selbstfahrendes Auto: Stets verheißt man uns mehr Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung.

Was dabei aber auf der Strecke bleibt, ist die Würde. Tatsächlich verliert der Mensch sie in dem Maße, in dem er sich mit technischen Apparaturen umgibt, die ihn mehr und mehr zum Teil einer gigantischen Maschine transformieren. Nicht der einmaligen und unberechenbaren Individualität eines Menschen dienen seine intelligenten technischen Hilfsmittel, sondern seiner reibungslosen Integration in die Abläufe einer Einrichtung oder seiner berechenbaren Nutzbarmachung für die Erfordernisse des Marktes.

Um wahrhaft in Würde leben zu können, braucht der Mensch aber keine technische Optimierung, sondern die Erfahrung von Sinn. Sie wird uns vor allem in der physischen Begegnung mit anderen Menschen zuteil. Digitale Geräte wie Smartphones sind nicht in der Lage, einen Begegnungsraum für Sinnerfahrung zu öffnen. Vielmehr neigen sie dazu, die lebendige Konversation des Menschen durch Zerstreuung zu vernichten. Je mehr Zeit wir vor unseren Monitoren verbringen, desto schneller verlieren wir unsere Würde. Technische Innovationen, die den Menschen weder geistig noch seelisch nähren, sind seiner unwürdig. Das Gleiche gilt für Technologien, die den Raum für Begegnung beschränken. Gerade im Bereich von Pflege und Betreuung sind alle technischen Apparaturen als würdelos abzulehnen, die den leibhaftigen Menschen als Gesprächspartner, Pfleger oder Betreuer ersetzen sollen. Wo sie hingegen dazu dienen, mehr Raum und Zeit für menschliche Begegnung zu erlauben, dürfen sie als der Menschenwürde dienlich begrüßt werden.

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, sagte der Philosoph Martin Buber, denn es ist die Begegnung mit dem Anderen, die uns Sinnper­spektiven öffnet. Dies gilt vor allem für die Begegnung mit anderen Menschen, ebenso aber auch für die Begegnung mit Erzeugnissen aus Kunst und Literatur oder die Begegnung mit der lebendigen Natur. Um Sinn zu erfahren, braucht der Mensch Ansprache – sei es in Gestalt anspruchsvoller Kultur, ansprechender Menschen oder anrührender Naturmomente. Und er braucht ein Gegenüber, dem er sich mitteilen kann – Gesprächspartner, die zuhören und ihn im Fragen nach dem Sinn begleiten. Nur in der Konversation mit der Welt öffnet sich der Raum des Sinns: der Raum, den wir Menschen brauchen, wenn unsere Würde bewahrt werden soll.

Autor
Dr. phil. Christoph Quarch,
Jahrgang 1964, Philosoph, Bestsellerautor, Redner.
Zuletzt erschien von ihm das Buch „Eros & Harmonie.
Eine Philoso­phie der Glückseligkeit“ (legenda Q 2020).
www.christophquarch.de