Liebe Leserin, lieber Leser,
in den letzten Jahren haben in Kliniken, Praxen oder Seniorenheimen immer mehr „Disziplinen” Einzug gehalten, die zuvor keine große Bedeutung hatten, aber große Zeitfresser sind. Bei einigen von ihnen würde sicher niemand die Wichtigkeit in Frage stellen wollen. Stichwort Brandschutz. Wobei man sich sehr wohl fragen darf, ob hier an den richtigen Stellschrauben gedreht wird, wenn große Statistiken zeigen, dass die Zahl der Brandopfer trotz verstärkter Brandschutzmaßnahmen in den letzten zehn Jahren eher zugenommen hat. Geht es vielleicht doch auch vor allem um den Absatz von Brandschutztüren und Rauchmeldern – weit über den tatsächlichen Bedarf hinaus?
Datenschutz. Ja, den sollte man im Auge behalten. Doch sind hier nicht auch einige Bestimmungen übertrieben, in einem Land, in dem das Bankgeheimnis abgeschafft wurde und Gemeinden Daten von Bürgern an Marketingagenturen verhökern dürfen zwecks „Einnahmeverbesserung“. Nach einer EU-Verordnung, die ab Mai 2018 in Kraft tritt, müssen medizinische Einrichtungen folgende Kriterien erfüllen: Datenschutzfolgeabschätzungen, Datenschutzbeauftragte bestimmen, Patienteneinwilligungen einholen, Datenübertragbarkeit sicherstellen. Bei Zuwiderhandlung drohen saftige Sanktionen. Sicher werden derartige Dinge die sowieso schon geringe Bereitschaft junger Ärzte, sich niederzulassen, weiter dämpfen.
Abläufe kritisch zu hinterfragen und Konsequenzen daraus zu ziehen ist notwendig und plausibel, um Fehler zu vermeiden. Der Flugverkehr macht das vorbildlich. Doch oft hat man das Gefühl, die sogenannte Qualitätssicherung – eigentlich aus der industriellen Massenproduktion stammend – dehne sich im Medizinbereich mittlerweile weit über einen tatsächlichen Nutzen hinaus aus. Das gilt zum Beispiel für ausufernde Dokumentationspflichten, etwa in Seniorenheimen, wodurch die persönliche Betreuung der Patienten zunehmend in den Hintergrund gerät. Welche evidenzbasierten Studien zeigen den behaupteten Nutzen? Wenn selbst versierte Altenpflegerinnen nicht einmal mehr ein paar rezeptfreie Kreislauftropfen geben dürfen, ohne dass der Arzt dies persönlich angeordnet und schriftlich abgezeichnet hat, wenn Patienten mit einer Blutdruckkrise stundenlang herumliegen müssen, bis endlich ein Mediziner eintrifft, weil niemand ohne schriftliche Anordnung „Nitrospray“ verabreichen darf, kann ich nur sagen: Modernes Qualitätsmanagement kann tödlich sein, wenn die Bürokratie einen höheren Stellenwert genießt als das zu schützende Gut: die Gesundheit des Patienten.
Fehlt nur noch, dass bald auch noch Genderbeauftragte über geschlechtsneutrale Toiletten und genderkompatible Informationsmaterialien in medizinischen Einrichtungen wachen, von der neuen Ersatzreligion „Digitalisierung“ ganz zu schweigen. Im Deutschen Ärzteblatt wurde gerade eine Klinik vorgestellt, die die Digitalisierung komplett durchgezogen hat. Ergebnis: deutlicher zeitlicher Mehraufwand, ständige Probleme mit Soft- und Hardware, ständiger Support durch Techniker nötig, Probleme mit Datensicherheit und der Projektleiter musste zugeben: „Eine digitale Klinik ist eine Art Dauerbaustelle.“
Alarmierend finde ich, mit welch vorauseilendem Gehorsam überall versucht wird, diesen vielfältigen „Gängeleien“ nachzukommen, ohne kritisch nach dem Nutzen zu fragen. Hier müssten Verantwortliche auf den Tisch hauen. Wo die Gesundheit des Menschen akut bedroht ist, haben alle neuen „Geschäftsideen“ zurückzustehen.
Dr. med. Rainer Matejka