Liebe Leserin, lieber Leser,
„Quo vadis?“, „Wohin gehst Du?“ Diese Fragen stellen Geleitworte in Zeitschriften, die sich mit Naturheilkunde beschäftigen, seit Jahrzehnten immer wieder.
Besonders auch in Kreisen naturheilkundlich tätiger Ärzte wird diese Formulierung häufig bemüht, um dann darauf zu verweisen, dass Naturheilkunde doch so vieles zu bieten hat: Immerhin wünschten laut Umfragen doch 80 Prozent der deutschen Bevölkerung eine Behandlung mit Naturheilverfahren. Da wäre doch deutlich mehr Anerkennung im Gesundheitswesen angebracht!
Doch warum dreht sich diese Diskussion seit Jahrzehnten im Kreise? Entgegen dem, was manche behaupten, bin ich nicht der Meinung, Naturheilverfahren seien heute besser im Gesundheitswesen anerkannt als vor zehn oder zwanzig Jahren. Sicher existiert inzwischen eine Reihe von Studien über einige Verfahren. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie in Kliniker-Kreisen auf Akzeptanz stoßen.
Warum das so ist? Ein Problem sind sicherlich sprachliche Missverständnisse: Was ist eigentlich Naturheilkunde? Was sind die zugehörigen Verfahren? Schon die Anhänger derselben tun sich mit einer Definition schwer. Von den Kneipp-Konzepten bis zu allen möglichen „Außenseitermethoden“ wird oft Diverses darunter zusammengefasst. Hinzu kommt, dass Begriffe wie Erfahrungsheilkunde, Alternativmedizin oder das intellektuell aufgeblasene Wort „Komplementärmedizin” Verwirrung stiften. Jammern hilft hier allerdings nicht weiter. Sinnvoller wäre vermutlich, Begriffe zu wählen, die auch die klinische Medizin besser versteht.
Was macht Naturheilkunde aus? Der frühere Frankfurter Ordinarius für Innere Medizin und Naturheilkunde Karl Pirlet bezeichnete sie als die Lehre von der „Heilhaltekraft“ in uns Menschen. Naturheilverfahren seien die Methoden, die diesem Ziel dienten. Das ist ein brauchbarer Ansatz. Ein weiterer wichtiger Schritt zu mehr Akzeptanz scheint mir, den Fokus auf die am wenigsten umstrittenen Dinge zu legen, ergo die klassischen Säulen der Naturheilkunde, wie gesunde Ernährung, Bewegung, Stressmanagement beziehungsweise Ordnungstherapie und dergleichen mehr.
Darüber hinaus lässt man im Gespräch mit Vertretern der klinischen Medizin Reizworte wie „Entgiftung“ und „Entschlackung“ am besten außen vor und spricht stattdessen lieber von „stoffwechselentlastenden Maßnahmen“ und „Unterstützung der natürlichen Ausscheidungsfunktionen“, besser noch von „Lebensstiländerungen“. Dieser Begriff ist inzwischen schulmedizinisch weltweit anerkannt bei praktisch allen chronischen Zivilisationskrankheiten: Niemand kommt mehr um gesunde Ernährung, Bewegung und Einschränkung des Genussmittelkonsums herum. Niemand könnte es wagen, diese Empfehlungen zu kritisieren.
Wir müssen nur immer wieder betonen, dass es sich dabei im Kern um klassische naturheilkundliche Konzepte handelt. In der Praxis bedeutet das: Gebraucht man naturheilkundliche Reizwörter, die die wissenschaftliche Medizin weder versteht noch akzeptiert, kassiert man massive Ablehnung, verschränkte Arme, eine gerunzelte Stirn. Greifen wir auf die Terminologie der klinischen Medizin zurück und sagen inhaltlich damit das Gleiche, ernten wir donnernden Applaus. So erfreulich es ist, dass verschiedene naturheilkundliche Verfahren, etwa das Heilfasten oder auch der Aderlass zunehmend in Studien bestätigt werden: Die richtige Wortwahl ist für ein Miteinander auf Augenhöhe schlichtweg unverzichtbar.